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Eine Flucht und ihre Hintergründe
von Karl Woisetschläger, Ludwig Wurzinger
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Walter Kohl

Die dunklen Seiten des Planeten

Rudi Gelbard, der Kämpfer. eine Reflexion

Stück

Deckblatt Bindeart: geb.
Format: 16 x 24 cm
Seiten: 236
Preis: 24,50 €
ISBN: 978-3-902427-56-4

Rudi Gelbard, geboren 1930, erlebte in Wien eine spannende und behütete Lausbuben-Kind­heit in einer jüdischen Großfamilie. Die Idylle brach im Jahr 1938 mit dem Einmarsch der Nationalsozialisten. 1942 kam Gelbard mit seiner Familie in das KZ Theresienstadt. Dieses Lager war für die Nazis eine Art Verschiebebahnhof, von dort gingen die Transporte in die großen Vernich­tungslager. Die Familie überlebte, weil seine Mutter in einer kriegswichtigen Produktion eingesetzt war.Bei der Befreiung des Lagers 1945 lebten von den etwa 10.000 Kindern, die zeitweise dort gelebt hatten, noch 1633 – unter ihnen Rudi Gelbard. Neunzehn andere Mitglieder der Großfamilie kamen nicht mehr zurück, sie waren ermordet worden. Gelbards Vater, ein gebrochener Mann, starb nach wenigen Jahren, auch seine Mutter litt ihr ganzes weiteres Leben an den Folgen des erlebten Grauens. All das prägte Gelbard für sein weiteres Leben, er wurde ein glühender Mahner wider das Vergessen und ging keiner Auseinandersetzung mit Rechtsradikalen und Auschwitz-Leugnern aus dem Weg.Schon das Kind Gelbard war im KZ „Zionist sozialdemokratischer Prägung“ geworden, wie er es selbst nennt. Heute ist er Träger hoher Auszeichnungen und weithin anerkannte Zentral­gestalt der Gedenkkultur.
Auszug aus dem Inhalt



Prolog

Mindestens ein Dutzend Mal habe ich die DVD abgespielt im letzten halben Jahr. Immer wieder drücke ich auf die Pausetaste nach zwei Minuten und 30 Sekunden, lasse den Film kurz zurücklaufen, sehe mir eine Szene noch einmal an. Ein älterer Herr von außergewöhnlicher Beweglichkeit und Beredsamkeit geht über eine Brücke, er beginnt eine Geschichte zu erzählen, zuerst im Off, die Kamera streift über Details von Gründerzeit-Fassaden. Dann steht er vor einer Häuserfront, es ist die Böcklinstraße im zweiten Wiener Gemeindebezirk, erfährt man von ihm, der zu sehen ist in Halbtotale. Er gestikuliert mit der linken Hand, die rechte steckt in der Manteltasche. Irgendwann einmal macht er eine weit ausholende Geste, als greife er nach etwas Imaginärem mit festem Griff und zöge es heran zu sich, dann wirft er es mit offener Handfläche wieder weg, wie ein Sämann. Dabei sagt er mit lauter heftiger Stimme: „Na, was wollt’s eigentlich von mir?! Was hab ich euch gemacht?"

Das ist die entscheidende Stelle.

Der Erzähler auf diesen Videobildern hat eine berichtenswerte Ge­schichte hinter sich. Wovon er am Anfang des Filmes spricht, ist eine Be­gegnung mit einem Trupp Hitlerjungen im Jahr 1942, vier Jahre nach dem so genannten Anschluss Österreichs an das Deutsche Reich. Damals war der Mann zwölf Jahre alt. Kind einer jüdischen Großfamilie. Natürlich hatte er sich gefürchtet vor den jugendlichen Schlägern. In den Monaten und Jahren seit dem 12. März 1938 hatte er wieder und wieder gesehen und am eigenen Leib erlebt, wie die neuen Herren, und auch die bisherigen Mitbürger, auf einmal mit den Juden umgingen. Und es war immer schlimmer geworden. Aber der Bub hatte irgendwann einmal genug davon gehabt, sich zu ducken und zu fürchten. Und hatte den Trupp von Schlägern, die um einiges älter und kräftiger waren als er, angeschrien.

Der Mann ist Rudolf Gelbard. Rudi, wie ihn seine Freunde nennen. Überlebender des Konzentrationslagers Theresienstadt. Kompromissloser Akteur gegen jedes Wiederaufflackern des braunen Ungeistes von 1945 bis heute. Die beschriebene Szene findet sich in dem Fernsehfilm „Der Mann auf dem Balkon“ von Kurt Brazda, der am 26. März 2008 erstmals im TV-Sender „3sat“ ausgestrahlt wurde. Ein einfühlsames Porträt eines seltsamen Menschen, der nicht leicht mit ein paar Worten zu charakterisieren ist. Ich tippe eine Weile herum auf der PC-Tastatur, suche Formulierungen, lösche sie wieder.

Ich ringe um Worte, die Rudi Gelbard beschreiben könnten: Opfer, aber ungebrochen. Ein Verfolgter, den seine Verfolger quälen, aber nicht demütigen konnten. Ungebrochen, das ist es vielleicht. Ein Ungebrochener. Nein, das trifft es nicht ganz genau. Zwei-, dreimal lasse ich die Passage auf der DVD vor und zurücklaufen, mache Notizen, verwerfe sie umgehend. Dann fällt es mir ein. Kämpferisch. Das ist das Wort. Rudolf Gelbard, der Überlebende, der Heimgekehrte, der ein Menschenleben lang Österreich nicht aus der Verantwortung entlassende Österreicher, hat das, was man ihm angetan hat, nicht unbeschädigt, aber ungebrochen überstanden. Und er ist das geblieben, was seine Persönlichkeit ebenso knapp wie vollständig beschreibt.

Kämpferisch.

Ja.

 
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